Sind Selbstoffenbarung und das Eingestehen von Schwächen noch zeitgemäß?

Dass man eigene Schwächen offenbart, ist ein Zeichen von Souveränität und zeugt von „Bodenhaftung“. Typischerweise ist das Eingestehen einer Schwäche ein Mittel, um das eigene Selbstbewusstsein zu zeigen und lädt Gesprächspartner:innen dazu ein, ebenfalls offen zu kommunizieren, um so ein vertrauensvolles Gesprächsklima zu fördern. Es ist zudem ein hilfreiches Mittel, um jemanden zu trösten, der gerade einen „Anfall von Selbstkritik“ hat – genau das macht einen Unterschied. Die Offenbarung einer Schwäche in einem selbstbewussten Tonfall wird für gewöhnlich nicht als Selbstkritik wahrgenommen, sondern zeigt, dass man so viel von sich hält, dass man sogar eine Schwäche eingestehen kann oder sogar mit ihr kokettiert.

Auch Selbstkritik kann man als Zeichen von Reife verstehen, aber wie immer macht der Ton die Musik. In Schulungen zum internationalen Verhandeln wird davor gewarnt, selbstkritisch aufzutreten, wenn man es mit Amerikanern zu tun hat. Denn Amerikaner würden Selbstkritik angeblich als Zeichen mangelnder Kompetenz verstehen. Auch wenn das eine unzulässige Verallgemeinerung ist, ist es dennoch augenfällig, dass Amerikaner im Vergleich zu Deutschen häufig deutlich „marktschreierischer“ auftreten. Doch auch in der amerikanischen Kultur hat die Selbstoffenbarung eine lange Tradition. Der 1955 verstorbene Dale Carnegie beginnt beispielsweise sein Buch „Sorge dich nicht – Lebe!“ mit der Schilderung seiner schwierigen Zeit als junger Mann in New York, in der er erfolglos LKWs verkaufte, „von denen er nichts verstand“, und räumt auch an anderen Stellen des Buchs Schwächen ein, für die er dann Lösungen fand. Er erwähnt aber nicht nur Lösungen, die er aus eigener Kraft herbeigeführt hat, sondern auch solche, bei denen er auf Hilfe angewiesen war. Seine „Demut“ erscheint authentisch, auch wenn es vermutlich besonders leicht fällt, solche Schwächen zuzugeben, wenn man bereits erfolgreich ist.

Wie eingangs erwähnt, scheint es jedoch zunehmend Menschen zu geben, die Selbstoffenbarung und das Eingestehen von Schwächen im Gegensatz dazu als tatsächliche Schwäche auslegen oder zumindest zum Ausdruck bringen. Verhält es sich dabei wie mit anderen Meinungen, die durch Konformität eine neue Wirklichkeit entstehen lassen? (Ich musste in diesem Zusammenhang an das Linien-Experiment denken) Handelt es sich dabei um einen neuen Aberglauben – so wie: “Verschränkte Arme sind ein Ausdruck von Ablehnung“, obwohl jeder weiß, dass es auch schlicht und ergreifend gemütlich sein kann, die Arme zu verschränken, und es nur dann Ablehnung zeigt, wenn auch die Schultern angespannt sind und der Gesichtsausdruck entsprechend ist? Doch während viele es als angenehm empfinden, auf diese Weise zu stehen oder zu sitzen, haben gesellschaftliche Erzählungen diese Interpretation geformt. Ist es ratsam, in bestimmten Kontexten die Arme zu „entkreuzen“ angesichts des gängigen Narrativs, das damit verbunden ist? Ist es wirklich besser, jeden Absatz auf LinkedIn mit Emoticons zu versehen? Ist schwarze Kleidung grundsätzlich ein Zeichen für Individualismus oder Kreativität, und sind Heavy Metal Fans überdurchschnittlich kreativ?

Wie seht ihr das: Ist Selbstoffenbarung noch zeitgemäß?

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