Geschichte wird erzählt

Alles nur erfunden?

Soweit wir wissen, sind Menschen die einzigen Tiere, die sich über etwas austauschen können, das es gar nicht gibt. Seit der kognitiven Revolution vor etwa 70.000 Jahren erzählen sich Menschen Legenden und Mythen und sind in der Lage, verschiedene Möglichkeiten zur Lösung eines Problems hypothetisch gegeneinander abzuwägen.

Die Fähigkeit, sinnstiftende Geschichten zu erfinden, ist eines der wichtigsten Erfolgsgeheimnisse des Homo Sapiens. Denn bis zu einer Gruppengröße von etwa 150 Personen reicht ein Netz von Bekanntschaften, um eine Gemeinschaft zu erzeugen. Um aber Städte mit zehntausenden Einwohnern oder Reiche mit Millionen von Untertanen zu gründen, muss eine gemeinsame, identitätsstiftende Geschichte glaubhaft vermittelt werden.

Welche Geschichten, Sagen und Legenden in einer Gemeinschaft erzählt werden, sind Ausdruck der Kultur und Wertevorstellungen. Es geht dabei nicht so sehr um den Wahrheitsgehalt einer Geschichte, sondern um Konsens über gesellschaftlich relevante Themen, die dadurch verstärkt werden. Sie geben den Menschen Sinn und Orientierung im Leben und sie regeln das soziale Miteinander des Stammes, der Stadt oder des Staates. In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird das als Narrativ bezeichnet. Ein bekanntes Beispiel ist der Amerikanische Traum: „Vom Tellerwäscher zum Millionär“.

Erzählungen bündeln Erfahrungen und geben Wissen über Generationen hinweg weiter. Einer spannenden Geschichte folgen wir aufmerksamer als einer Aufzählung von Fakten und können sie uns besser merken. Das gilt insbesondere, wenn die Geschichte zu unseren eigenen Erfahrungen passt. Durch die Identifikation mit den Charakteren werden Gefühle wie Freude, Wut, Hoffnung oder Angst hervorgerufen. Je mehr Assoziationen beim Erzählen ausgelöst werden, desto wirkungsvoller ist die Geschichte.

Auch abstrakte Inhalte können in Form von Vergleichen und Metaphern verständlich gemacht werden. Das kommt beispielsweise in den schriftlichen Überlieferungen der Weltreligionen zum Einsatz. Oder auch in Fabeln mit der charakteristischen Phrase: “Und die Moral von der Geschicht…”.

Die meisten Erzählungen wirken unbewusst, selbst wenn sie nicht auf allen Ebenen verstanden wurden.

Wir werden zu dem, was wir über uns erzählen

„Früher oder später erfindet jeder eine Geschichte, die er für sein Leben hält“ (Max Frisch)

So wie die kollektiven Mythen und Narrative unsere Gesellschaft formen, prägen wir mit den Geschichten, die wir über uns erzählen unsere persönliche Zukunft. In Geschichten werden die Informationen über das Leben einer Person organisiert: Wer sind wir, wo kommen wir her, welche prägenden Erlebnisse gibt es, wo wollen wir hin, welche Bezugspersonen gibt es, was ist uns wichtig, was für Vorstellungen haben wir von uns?

Sie bilden die Perspektive, die wir auf unsere Vergangenheit und Zukunft einnehmen. Diese Überzeugungen werden häufig nicht mehr hinterfragt und manchmal nicht einmal bewusst wahrgenommen, doch sie bestimmen unseren Handlungsspielraum massiv.

Indem wir neue Geschichten in unsere Identitätslandschaften einbauen, gestalten Veränderung aktiv.

Wer beginnt, etwas anderes über sich zu erzählen, steigert die Chance sich dementsprechend zu entwickeln. In einer Zeit, in der viele Lebensentwürfe gesellschaftlich zustimmungsfähig sind, findet die Identitätsbildung besonders stark als individuelle Leistung statt.

Was für Gesellschaften und Individuen gilt, gilt auch für Organisationen

In Anekdoten und im Flurfunk wird die erlebte Organisationskultur immer wieder reproduziert und neue Entwicklungen mit den etablierten Deutungsweisen abgeglichen. Die (inoffizielle) Kommunikation führt so zu handlungsleitenden Überzeugungen im Team.

Was haben wir hier schon immer so gemacht? Welche Anekdoten erzählen wir über Mitarbeitende? Welche über Führungskräfte? Welche einschneidenden Ereignisse gab es bei uns? Wie ist damit umgegangen worden? Was ist über die Motive, Werte und Ziele der verschiedenen Stakeholder bekannt?

Mittels narrativer Interviews können die Perspektiven aller Beteiligten erhoben werden. So erhält man einen umfassenden Einblick in die tatsächlich gelebte Unternehmenskultur und entdeckt bislang verborgene Probleme, Interessen und Möglichkeiten. Durch den Einsatz von Storytelling kann Orientierung gegeben, die Bereitschaft für Veränderungen gesteigert und das Weitergeben von Erfahrungswissen verbessert werden.

Der “Monomythos”: Die Heldenreise und Archetypen

Die Heldenreise ist eine Möglichkeit, mit einer narrativen Methode zu arbeiten und wird z.B. psychotherapeutisch, im Coaching, als Modell fürs Drehbuchschreiben und zu Marketingzwecken eingesetzt.

Joseph Campbell (1904-1987), ein amerikanischer Professor und Mythenforscher, hat Legenden, Sagen und Märchen aus aller Welt und verschiedenen Religionen miteinander verglichen. Er glaubt, dabei auf eine immer wiederkehrende Erzählstruktur gestoßen zu sein, den „Monomythos“.

Durch den „Star Wars“-Regisseur George Lucas wurde dieses Schema weltbekannt, denn die gesamte Handlung ist danach angelegt. Ob Campbell nun wirklich die Grundstruktur menschlicher Erzählungen entdeckt hatte, sei dahingestellt – seit er sie postuliert hat, hat sie jedenfalls unzählige Male in Literatur und Film Verwendung gefunden.

Außerdem beschäftige Campbell sich mit den Archetypen, die C.G. Jung in den 1930er Jahren als überindividuelle und interkulturelle Schablone für bestimmte Verhaltensmuster und soziale „Rollen“ beschrieben hatte. Beispiele dafür sind etwa der Held, der Krieger, das Kind, der Heiler oder Trickster.

Sowohl die Struktur der Heldenreise als auch die Figuren der Archetypen erzeugen demnach eine Art „Wiedererkennen“ in uns, weil sie in so vielen Geschichten und Märchen in ähnlicher Art auftauchen.

Die Heldenreise in zwölf Schritten (Steffen 2019: 69)

Ausgangspunkt ist die gewohnte Welt: Held*in wird zum Abenteuer gerufen. Etwas liegt im Argen oder neue Horizonte öffnen sich. Diesem Ruf verweigert er/sie sich zunächst, innere und äußere Widerstände halten ihn/sie zurück, den Weg ins Unbekannte zu wagen. Ein*e Mentor*in unterstützt mit Rat, Tat oder hilfreichen Gaben, die Reise anzutreten und das Abenteuer beginnt. Held*in überschreitet eine Grenze (räumlich oder Tabu, Konvention), nach der es kein Zurück gibt. Auf der anderen Seite liegt eine unbekannte Welt. Held*in wird vor Bewährungsproben gestellt und trifft dabei auf Verbündete und Feinde. Die Herausforderungen werden immer größer, Held*in lernt aus Erfolgen und Niederlagen. Schließlich findet die entscheidende Prüfung/Konfrontation statt, die erfolgreich ausgeht. Held*in wird belohnt, z. B. durch einen Schatz oder eine Erkenntnis und tritt den Rückweg in die alte Welt an. Dabei stellt sie/er fest, dass die beiden Welten miteinander verbunden werden müssen. Im ehemals Vertrauten stellt Held*in das Gewonnene unter Beweis und verändert seine alte Welt. Dieser Kreislauf beginnt irgendwann wieder von vorn.

Auf einen Blick:

Geschichten sind wirkungsvoll, weil…

  • …wir damit aus Erfahrungen der Vergangenheit lernen (Lebenserfahrung und Sachinformationen vermitteln, Anschauungsvermögen fördern und Wissen weitergeben)
  • …die Konstruktion unserer Identität über Erzählungen abläuft (um Normen und Werte weiterzugeben und Rollenerwartungen zu definieren)
  • …wir auf diese Art Möglichkeiten, Orientierungen und Ziele für die Zukunft entwickeln (um Problemlösungen und Denkprozesse einzuleiten, zum Handeln zu motivieren und Hoffnung zu stiften)
  • …wir uns Veränderungen als Prozess vorstellen und erzählen können (um Verhaltensänderungen anzuregen oder das Repertoire an Verhaltensweisen erweitern)
  • …wir einzelne Elemente unseres Erlebens mit Sinn füllen, indem wir Kausalitäten und einen Kontext herstellen

LITERATUR

Chlopczyk, Jacques (Hrsg.) (2017): Beyond Storytelling: Narrative Ansätze und die Arbeit mit Geschichten in Organisationen. Berlin: Springer Gabler.

Harari, Yuval Noah (2015): Eine kurze Geschichte der Menschheit, München: Pantheon.

Lippmann, Eric (2018): Identität im Zeitalter des Chamäleons. Flexibel sein und Farbe bekennen, 3. akt. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Steffen, Andreas (2019): Menschen und Organisationen im Wandel. Ein interdisziplinärer Werkzeugkasten für Veränderungsprozesse, Berlin: Springer Gabler.

AUTOR
WEITERE SPANNENDE IMPULSE